Lieder, Gedichte & Texte als die Gedankenimpulse dienen können

Mitgliederversammlung Würzburg 2023: Predigt von Judith Einsiedel auf dem Abschlussgottesdienst

Am Sonntag, 15. Oktober 2023, endete die diesjährige Mitgliederversammlung der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V. in Würzburg (-> klick für Text) mit dem Abschlussgottesdienst. In ihrer Predigt kam Judith Einsiedel (Pastoralreferentin im Nagelkreuzzentrum KZ-Gedenkstätte Dachau und seit 2023 Mitglied des Leitungskreises), auf die alte Frage zurück, die sich angesichts der Weltlage wie ein roter Faden auch durch die Mitgliederversammlung gezogen hatte: Wie kann Gott das Leid auf dieser Welt zulassen? Den Wortlaut ihrer Predigt haben wir hier dokumentiert.

Liebe Mitglieder in der Deutschen Nagelkreuzgemeinschaft, liebe Schwestern, liebe Brüder!

Krieg beherrscht einmal mehr das Weltgeschehen und trübt den Blick auf die Schönheit unserer Schöpfung und auf die Dankbarkeit, die dieser Jahreszeit (Herbst, Erntedank…) sonst eigen ist. Krieg herrscht an vielen Orten – geht uns aber vielleicht in der Ukraine und in Israel/Palästina gerade besonders nahe.

Einmal mehr steigen altbekannte Fragen (in mir) auf: Wie können Menschen so handeln? Wie einander so etwas Furchtbares antun? Beinahe wollte ich sagen „so etwas ‚Unmenschliches‘ antun“ – doch scheint Gewalt und Tötung ja leider nur allzu ‚menschlich‘ zu sein… Also: Wie können Menschen…? Eine Frage, die sich mir auch in meiner Arbeit in der KZ-Gedenkstätte Dachau regelmäßig stellt – und die man sich im November 1940 in Coventry oder im März 1945 in Würzburg vielleicht ebenfalls gestellt hat. Bei dem einen oder der anderen kam/ kommt womöglich noch eine weitere Frage hinzu: Und wie kann Gott das alles zulassen? Wie kann er nur zusehen?

Im Theologiestudium habe ich darauf eine relativ simple und zugleich sehr unbefriedigende Antwort erhalten, die sich hinter dem harmlos klingenden Ausdruck free will defence verbirgt. Gott hat den Menschen mit einem freien Willen geschaffen und damit das Risiko in Kauf genommen, dass der Mensch diese Freiheit auch zum Bösen gebrauchen kann, missbrauchen kann. Damit soll Gott theologisch verteidigt werden, in seiner Güte und Allmacht (Er ist gütig und allmächtig, obwohl es Leid gibt) – dem Leiden der Opfer freilich wird man mit einer solchen Erklärung nicht gerecht; ein Trost ist dies für sie nicht.

Was mich in meinem Ringen mit den Warum-Fragen eher weiterbringt, ist das heutige Evangelium. Da werden Menschen zu einem rauschenden Fest eingeladen, einem Fest der Freude und Gemeinschaft, mit gutem Essen – aber sie wollen partout nicht kommen. Und warum? Weil sie mit sich selbst beschäftigt sind: mit ihrem Besitz, mit ihren eigenen Plänen, und man könnte sagen: auch mit ihrer eigenen Aggression. Es kommt nämlich zu gewaltsamen Übergriffen und sogar zu Mord, nur um der Einladung nicht folgen zu müssen. Martin Luther und andere haben dieses Phänomen den homo incurvatus in seipsum genannt: den in sich selbst verkrümmten Menschen. Der nicht den Blick hebt für die Bedürfnisse des anderen oder gar das Leid des anderen, ob nun aus Nachlässigkeit oder aus Absicht. Und der nicht den Blick hebt hin zu Gott – sonst müsste er sich ja vielleicht selbst von Gott anschauen lassen und das könnte schmerzhaft sein.

Ich weiß aus meiner Studienzeit in Israel, dass es Projekte gibt – eines davon heißt „Talking Peace“ –, die versuchen, Israelis und Palästinenser miteinander ins Gespräch zu bringen, auf dass sie die Traumata und Wunden und die Bedürfnisse des anderen kennen und verstehen lernen. Leider konnte dadurch nicht verhindert werden, was jetzt gerade geschieht. Menschen und Menschengruppen sind versucht, nur sich selbst zu sehen – und ihr eigenes ‚Ding‘.

In kleinerem Ausmaß dürfte jeder von uns das auch kennen: Mich hat jemand verletzt – ich schieße zurück, vielleicht sogar mit Kollateralschäden. Mein Bedürfnis wiegt mehr als das Bedürfnis des anderen. Meine Pläne sind wichtiger als die Ideen des anderen. Und so weiter und so weiter. Ein gewisses Maß an Selbstverkrümmung

scheint in uns Menschen angelegt zu sein. Jedenfalls würde ich so auch die Tradition von den sogenannten Wurzelsünden verstehen, zu denen Hochmut, Neid, Habsucht, aber zum Beispiel auch Trägheit, Gleichgültigkeit gehören. Dass sich diese Wurzelsünden in unserer Versöhnungslitanei wiederfinden, wenn auch nicht eins zu eins, davon haben wir an diesem Wochenende schon gehört. Für mich macht das die tiefe Weisheit und Menschenkenntnis der Litanei aus – und regelmäßig fühle ich mich, wenn ich die Litanei in Dachau spreche, bei der ein oder anderen Bitte selbst ertappt.

Und wie kann nun ein Ausweg aus dieser menschlichen Ich-Bezogenheit und Kurzsichtigkeit aussehen? Er ist jedenfalls nicht möglich, ohne dass wir immer und immer wieder den Blick heben: auf unsere Mitmenschen, aber auch auf Gott. Das kann Überwindung kosten: anderen Menschen zuhören, auch wenn ich sie gerade als anstrengend empfinde; Dinge teilen – ob materielle oder immaterielle – die ich lieber für mich behalten würde; mit den Fehlern der anderen barmherzig sein.

Richard Howard hat es uns vorgemacht: statt bei dem Eigenen stehenzubleiben, den Hass noch zu vermehren und nach Vergeltung zu rufen – wie der König im Evangelium in seinem Zorn es tut, wo es sicher auch zu unschuldigen Opfern gekommen ist – hat Richard Howard die Kraft aufgebracht, Versöhnung zu predigen und vorzuleben. Dies hat ihn, mitten im Krieg, mitten in den Ruinen seiner Kathedrale, sicher auch Überwindung gekostet. Geholfen haben dürfte ihm dabei sein Blick auf einen vergebungsbereiten Gott.

„Father forgive“ – dieser Ruf passt für damals und für heute; er passt für Dachau und für Auschwitz, für Israel und Palästina, für die Ukraine, Russland, für so viele Orte und Situationen auf der Welt. Und er passt für mich… und uns, besonders dann wenn wir an einer Weite unseres Blickes scheitern. Liebender Gott, vergib! Und mach uns zu Werkzeugen Deiner Vergebung!

Autorin: Judith Einsiedel

Terror in Paris: Nicht Hass oder Rache, sondern Frieden und Versöhnung

Anschläge in Paris genau 75 Jahre nach Zerstörung der Kathedrale

„Die entsetzlichen Ereignisse der vergangenen Nacht in Paris erinnern uns wieder an das Böse, zu dem Menschen fähig sind. Unsere aus tiefstem Herzen gesprochenen Gebete gedenken aller, die geliebte Menschen verloren haben, und aller, die verletzt wurden oder bei den jüngsten Angriffen traumatisiert wurden.“

Das erklärte Dr. Sarah Hills, Leiterin der Versöhnungsarbeit an der Kathedrale von Coventry,  am 14. November 2015 – genau 75 Jahre nach den Bombenangriffen auf Coventry, bei denen auch die Kathedrale zerstört wurde. In Coventry und überall auf der Welt erinnern sich die Menschen in diesen Tagen an die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg.

„Wir erinnern aber daran in einer bestimmten Haltung“, so Sarah Hills. „Am Morgen nach dem Bombardement ist Provost Howard, der leitende Geistliche der Kathedralgemeinde damals, in die vom Rauch erfüllte Ruine der geliebten Kathedrale gegangen und sagte zwei Worte: ‚Vater vergib!‘  Heute finden wir uns wieder an einem Morgen nach einer schrecklichen Zerstörung, bei der wiederum Leben ausgelöscht wurde. Wieder müssen wir reagieren – und wir sollten es nicht im Geist des Hasses oder der Rache tun, sondern aus einer großen Sehnsucht heraus nach Frieden und Versöhnung.“ Weiterlesen

Potsdam Garnisionkirche

Garnisonkirchen-Netzwerk wächst

Peace and Reconciliation

„Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen“

Ein Impuls von Günter Demnig, dem Künstler der „Stolpersteine“, der sich dafür 2013 den Magdeburger Lothar-Kreyssig-Friedenspreis mit Helmut Morlok, dem Architekten der Jugendbegegnungsstätte im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz teilte: „Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen.“

Peace and Reconciliation

„Was keiner wagt, das sollt ihr wagen…“

Impuls:

„Was keiner wagt, das sollt ihr wagen // was keiner sagt, das sagt heraus //
was keiner denkt, das wagt zu denken // was keiner anfängt, das führt aus. //

Wenn keiner ja sagt, sollt ihr es sagen // wenn keiner nein sagt, sagt doch nein //
wenn alle zweifeln, wagt zu glauben // wenn alle mittun, steht allein. //

Wo alle loben, habt Bedenken // wo alle spotten, spottet nicht //
wo alle geizen, wagt zu schenken // wo alles dunkel ist, macht Licht.“

(Text: L. Zenetti, auch von K. Wecker gesungen)